2 Jul 2010

Nachtwind (Teresa): Vergangenheit

Dol Amroth, vor 5 oder mehr Jahren

In der kleinen Kammer ist es stickig und eng. Auf dem Bett – welches neben einer Truhe das einzige Möbelstück in der kleinen Kammer darstellt – sitzt eine mädchenhafte Teresa im Alter von allerhöchstens 15 Sommern. Sie trägt ihr Haar noch lang, die kleine Narbe im Gesicht existiert noch nicht und sie ist zwar schlank, wirkt jedoch weitaus wohlgenährter, als man sie Jahre später im Breeland kennen wird.
Sie zieht sich gerade einen grobleinenen Morgenmantel über die Schultern und beobachtet einen feisten Soldaten, dem noch die Hitze der Anstrengung ins Gesicht geschrieben steht, die vor wenigen Minuten in der Kammer stattfand, dabei, wie er silberne Münzen abzählt. Eine nach der Anderen landet neben ihr auf den zerwühlten Bettlaken, Teresa zählt im Geiste mit und sieht ihn auffordernd an, als er ihr die letzten fünf unterschlagen und das wie ein Versehen aussehen lassen will.

„Schon gut, Kleine. Bist ja jeden Silberling wert.“
Er brummt amüsiert über ihren vorwurfsvollen Blick und leert den letzten Rest seiner Rumflasche, die er aus dem Hafen mit in das Freudenhaus an der Straße zur Burg mitbrachte, ehe er ihr die fehlenden Münzen auf der ausgestreckten flachen Hand hin hält. Als sie danach greifen will, schließt sich seine große Hand um die ihre und zieht das Mädchen von seinem Sitzplatz hoch. Sogleich wandern die gierigen Männerhände unter das grobe Leinen ihres Morgenmantels.
„Reicht dein Sold dafür noch aus?“
„Scheiße, Kleine. Du bist ’ne strenge Geschäftsfrau, hm?“
„Man muss sehen, wo man bleibt, mein Großer.“
Mit einem verführerischen Lächeln und katzengleicher Anmut entwindet sich Teresa dem Griff des Soldaten, um die Münzen vom Bett einzusammeln. An seinem Räuspern bemerkt sie, das er sie dabei nicht aus den Augen lässt, als sie sich mit einem Knie auf dem Bett abstützt um eine Münze zu greifen, die etwas weiter gesprungen ist, als die anderen.
„Wie heißt du eigentlich?“
„Du nanntest mich nach deiner Liebsten aus Rohan, schon vergessen?“
„Ich meine, wie heißt du wirklich, Mädchen? Wirst ja wohl nicht immer Hure gewesen sein, auch wenn du jünger zu sein scheinst, als die anderen. Deine Mutter wird dir einen Namen gegeben haben.“
Teresa lässt sich Zeit damit, die Münzen noch einmal zu zählen und in das für sie vorgesehene Kästchen zu legen. Um der Wahrheit Tribut zu zollen, müsste sie ihn nun korrigieren: Ja, ich bin schon immer hier gewesen. Ich habe nichts anderes gemacht, als das hier. Nein, ich habe keinen richtigen Namen. Einige der anderen Frauen in diesem Haus nennen mich Teresa, wieder andere nennen mich Mithiel, oder eben Kleine. So wie du eben…
Doch begnügte sie sich mit dem allgegenwärtigen geheimnisvollen Lächeln, dass sie sich für den Umgang mit ihren Freiern angewöhnt hatte.
„Vielleicht verrate ich es dir bei deinem nächsten Besuch, hm?“
„Vielleicht frage ich auch einfach deine große Schwester, sie wird es wissen. Ein paar Silberlinge habe ich noch übrig, um ihr das Geheimnis zu entlocken.“
Er ließ den spärlichen Inhalt des Lederbeutels klimpern, in dem er seinen restlichen Sold verwahrte und lachte.
Ehe Teresa antworten konnte, erschien der dunkle Lockenschopf der eben Genannten im Türspalt. Als hätte sie gelauscht. Vermutlich hatte sie das auch, denn sie antwortete dem Soldaten keck.
„Irgend etwas sagt mir, das die paar Münzen mir heute kein Geheimnis mehr entlocken werden, Süßer. Komm mit deinem nächsten Sold und wir sehen weiter.“

Ihre „große Schwester“ verstrickt den Soldaten noch in einem gewitzten verbalen Schlagabtausch, während sie ihn aus dem Haus komplimentiert und Teresa allein in der stickigen Kammer zurück bleibt. Darauf hatten die Damen in diesem Haus sich geeinigt: Das sie Schwestern sein sollten, für jeden Außenstehenden. Nicht etwa Mutter und Tochter, wie es der Wahrheit entspräche. Glücklicherweise war die Mutter jung genug, um als ältere Schwester durchzugehen und ihrem unbelehrbaren Sturkopf war es zu verdanken, das Teresa als Kind nicht weggegeben wurde, sondern in einem Freudenhaus, dem Arbeitsplatz der Mutter, aufwuchs.
Sie nannte sich Lilia. Ob das ihr richtiger Name war, bezweifelte Teresa bereits seit Jahren. Hier in diesem Haus der gekauften Liebe schien niemand einen rechten Namen zu haben. Selbst die Wachen, die für das Haus arbeiteten und für Sicherheit sorgten wurden von jedem Mädchen anders genannt. Zudem wechselten sie oft. Die Hintergründe vermochte Teresa nicht zu erfassen.

Nachdem sie das kleine Fenster der Kammer geöffnet hat, um etwas frische Luft zu haben, erscheint Lilia wieder unangekündigt in der Tür. Wie immer mit einem breiten Lächeln im Gesicht. Ihre Mutter trug eine angeborene Fröhlichkeit vor sich her, die Teresa nicht nachempfinden konnte – was sie jedoch nicht davon abhielt, diese für ein paar Silberlinge für ihre Herrenbesuche zu kopieren.

„Beeil dich, wir sind eingeladen.“
„Ich bin müde. Es war viel los in den letzten Tagen.“
In dem Haus, in dem es sonst, verglichen mit anderen Häusern seiner Art, eher ruhig zugeht, hatte in den letzten Tage so etwas wie Hochbetrieb geherrscht. Schuld daran trägt der Fürst der Stadt, der seine Truppen auswechselt, weshalb sich zunächst die aufbrechenden Soldaten im Haus einfanden um noch einmal zu genießen, wozu sie lange keinen Gelegenheit bekommen würden und sich dann die erschöpften Männer von irgend einer Front wieder in der Stadt einfanden und das nachholten, was ihnen so lange verwehrt geblieben war. Auf diese Art ging es auch in diesem Haus mehrere Tage lang zu wie in einem Bienenstock, trotz der verhältnismäßig anspruchsvolleren Damen – verglichen mit denen aus dem Hafen – und ihren dementsprechend höheren Preisen.

„Und? Sei froh, dass viel los ist, Kleine. Klingende Münzen sorgen für hübsche Kleider…“
„…was wiederum für bessere Kundschaft sorgt. Ich weiß.“
Teresa beschäftigt sich neben dem Gespräch damit, die zerwühlten Laken vom Bett zu ziehen und sie ordentlich zusammen zu legen, um sie später der Wäschefrau zu geben.
„Na bitte.“
„Dennoch, ich will nicht…“
„Papperlapp. Mädchen.“
Mit strenger Stimmlange nimmt Lilia dem jungen Mädchen das Laken aus der Hand, wirft es achtlos zurück auf das Bett. Wie immer in solchen Momenten, wenn sie ihr direkt gegenüber steht, ist sie aufs Neue erstaunt über die Ähnlichkeit ihrer Tochter. Als würde sie in einen Spiegel sehen – Ein Spiegel der das Antlitz um einige Jahre jünger zaubert. Einzig der stets nachdenkliche, fast konzentriert ernste Zug ihrer Mimik steht im Kontrast zu der eigenen Unbekümmertheit, die sie jetzt jedoch für den Moment vermissen lässt.
„Soll das heißen, du willst nicht arbeiten?“
„Ja. Zumindest nicht mehr heute, ich bin…“
„So, du willst also nicht mehr arbeiten. Und wo bekommst du dann dein Silber her, hm?“
„Aber doch nur heute, ich kann morgen wieder…“
„Kannst du etwa Nähen? Kannst du das?“
„…. Nein.“
„Aha. Und kannst du Kochen? Oder kannst du die Arbeit unserer Wäschefrau machen?“
„Nein, kann ich nicht, aber ich will doch bloß…“
„Unterbrich mich nicht. Kannst du irgend etwas außer dem, was man dir hier beibrachte? Was ich dir hier beibrachte, meinem eigenen Fleisch und Blut? Ein Schwert führen? Fischen? Irgend etwas?“
Die Stimme der Älteren war im Verlauf zu schneidendem Eis abgekühlt, ebenso schmerzhaft wie kalt jeden Einwand abbrechend, zunichte machend. Teresa weiß sich nicht anders zu helfen, als Kopf und Schultern hängen zu lassen und zu jeder Frage den Kopf zu schütteln.
„Wenn du nicht mehr arbeiten willst, dann geh hier raus. Jetzt, sofort. Nimm deine Sachen und hau ab! Tu irgend etwas anderes, was du kannst. Wenn du dir einbildest, etwas anderes zu können. Kannst du das?“
„Nein, kann ich nicht.“ Die Antwort ist leise gegeben, kaum mehr als ein unsicheres, resigniertes Flüstern.
„Was? Ich verstehe dich nicht, Sprich lauter!“
„Ich sagte: Nein, ich kann nichts anderes.“
„Aha. Wovon willst du also leben, hm? Luft und Liebe? Wer liebt schon eine Hure, wer will dich schon, wenn nicht für Silber, hm? Will dich irgend jemand, Mädchen?“
„Ich… denke nicht, nein.“
„Gut. Dann wasch dich und zieh dir etwas Hübsches an, wir werden erwartet.“
Mit diesen Worten rauscht Lilia wieder aus dem Zimmer, die Tür hinter sich jedoch nicht schließend und Teresa gedankenvoll mit den Bettlaken zurücklassend.

Ich will dich.“
Eine dunkle, weibliche Stimme. So dunkel wie die Frau, der sie gehört. Sie hatte scheinbar lautlos das Zimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen, denn als Teresa sich zu ihr umdreht, lehnt sie lässig, mit verschränkten Armen, mit einer Schulter von innen an der Tür.
„Ich hab‘ jetzt keine Zeit für dich, tut mir leid.“
„Du hast seit vielen Monden keine Zeit für mich, mith-hen.“
Die dunkle Frau lächelt Teresa entwaffnend an und entblößt dabei ihre im Kontrast zur Haut stehenden strahlend weißen Zähne. Sie nähert sich dem Mädchen mit geschmeidigen Bewegungen und drückt dieses, sobald sie vor ihm steht, mit sanftem Druck auf den Schultern auf das Bett.
„Ich bin zu alt, um auf Bäume zu klettern. Du hast sie doch gehört – Oder?“
„Ja, habe ich. Sie lügt. Du kannst etwas anderes als das hier.“
„Was?“
„Was ich dich lehrte.“
„Auf Bäume klettern und Seife stehlen?“ Teresa blickt die ältere Frau verständnislos an, als diese nickt. Ihre Freundschaft besteht bereits seit ihrer Kindheit, wurde irgendwann zu mehr. Durch die dunkle Haut vermochte sie nie abzuschätzen, wie viel älter ihre Freundin genau war, denn ruhig und irgendwie weise hatte sie schon immer gewirkt. Von ihr wurde sie abwechselnd mith-hen oder lhûn-hen genannt, was genau es bedeutete, hatte Teresa jedoch vergessen. Etwas mit den Augen, vermutlich wegen ihrer hellen Farbe.
„Ich lehrte dich mehr als das. Du musst es nur erkennen.“
In den Jahren seit ihrer Kindheit hatten sie sehr viel Zeit gemeinsam verbracht. Die Dunkle hatte mit ihr viele Streiche gespielt, sie waren um die Wette gelaufen, heimlich auf Bäume oder an Hausfassaden hoch geklettert, trieben sich des nachts in den Gassen herum und stahlen den anderen Frauen im Haus Seifen oder Duftwasser ohne das diese es bemerkten. Das all diese Spielereien auf ein bestimmtes Ziel hin arbeiten sollten, hatte Teresa bis heute nicht verstanden. Sie hatte nur die Zeit genossen, mit ihr. Ihre Freundschaft, ihre Vertrautheit.
Später hatte sie, als die anderen Frauen sie für alt genug hielten, ihr einen Mann in die Kammer zu schicken, einfach ihr Schicksal akzeptiert. Immerhin kannte sie es nicht anders. Seitdem hielt sie den Kontakt zu ihrer Freundin nur noch sporadisch, seit ein paar Monaten fast gar nicht mehr aufrecht. Es kommt ihr nicht mehr richtig vor.
„Hör zu, ich bin wirklich in Eile. Bitte lass mich allein, damit sie nicht warten muss. Sie wird sonst ungenießbar sein.“
„Wie du möchtest.“ Mit diesen Worten geht die dunkle Frau wieder zurück zur Tür, wendet sich ihr jedoch noch einmal zu.
„Wenn du erfahren möchtest, was du noch kannst, triff mich an unserem Platz. Ich warte dort auf dich.“
„Ich weiß nicht, ob ich es in den nächsten Tagen schaffe…“
„Das macht nichts, ich warte.“
„Wann soll ich denn…?“ Die abwehrende Geste der Frau heißt sie innehalten.
„Das ist nicht wichtig. Du solltest dir nur darüber im Klaren sein: Wenn du es erfährst, wirst du weniger Männer haben können, weniger Silber mit dieser Arbeit verdienen. Wir werden viel von deiner Zeit benötigen, die du sonst auf dem Rücken verbringst.“
Um ihrem merkwürdigen Verhalten die Krone aufzusetzen verschwindet sie mit den letzten Worten aus dem Zimmer. Wieder schafft sie es, diesmal jedoch vor Teresas Augen, die Tür vollkommen lautlos zu schließen.

Das junge Mädchen bleibt zurück. Sie ist müde und verwirrt, die Worte beider Frauen haben sie aufgewühlt. Dennoch, über sie zu grübeln wird ihr nicht helfen, nur Zeit vergeuden. Also beginnt sie eilends damit, sich zurecht zu machen.
Als sie wenig später zu Lilia aufschließt und sich mit ihr von zwei Wachen zu ihrer Verabredung begleiten lässt, hallen vor allem zwei Worte des gesagten der Dunkelhäutigen in ihren Gedanken nach: Weniger Männer.

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