(Deutsche Nachrichtenerstattung, ca. 19:30 Uhr Ortszeit)
+++ breaking news +++
Bombenanschlag im Stuttgarter Hauptbahnhof
Heute, am frühen Abend, ist am Stuttgarter Hauptbahnhof ein Sprengsatz in einer abgestellten Reisetasche explodiert. Drei Menschen, davon eine Frau, wurden lebensgefährlich verletzt, zwei Ersthelfer vor Ort erlitten leichte Verbrennungen.
Polizei und DB Sicherheit haben zu dem verdächtigen Gepäckstück noch keine Stellung bezogen. Eine Augenzeugin gibt an, die Tasche an der Explosionsstelle länger einsam stehen gesehen zu haben. Ob der Anschlag mit dem im Bonn zu verbinden ist, oder den Gegnern des Bahnprojektes „Stuttgart 21“ zugeordnet werden kann, ist bisher unklar.
+++ breaking news ende +++


Maximilian Schneider zieht an seiner Zigarette, während er einem namenlosen Mitarbeiter der Kanzlei beim Ausladen der drei Koffer zusieht. Irgendein Praktikant. Irgendein Sohn oder Enkel eines Freundes seines Vaters. Er mustert den jungen Mann kurz. Saubere Fingernägel, manikürt. Maßgeschneiderter Anzug, stilvolle Krawatte und teure Lederschuhe – die nun von Schneematsch und Streusalz auf dem Parkplatz zerstört würden. Probleme, die die Welt nicht braucht.
Max schmunzelt und nimmt einen letzten Zug von der Zigarette, ehe er die Kippe in den aufgetürmten Schneeberg hinter sich schnippt. Jungen wie er wollen Karriere und gute Zeugnisse. Können sich aber vermutlich noch nicht einmal rasieren. Passend zu diesem Gedanken fährt er sich mit den Fingern durch den eigenen vollen und gut gepflegten Bart und sieht hinab auf seine Füße, die in Winterstiefeln stecken.
Ich bin selbst noch nicht alt mit meinen einunddreißig, aber immerhin habe ich gelernt, mit welchem Schuhwerk ich durch den Schnee gehe.

Im Innern der S-Klasse streiten sich immer noch seine Eltern. Lautstark. Max rollt mit den Augen und scheucht den Praktikanten mit knappen, höflichen Worten fort. Wenn seine Eltern streiten, treffen Weltklasse-Temperamente aufeinander, was den meisten Unbeteiligten schnell unangenehm wird. Sie streiten nicht oft. Dennoch sieht Max ihnen gern dabei zu. Seine Eltern, das perfekte harmonische Paar seit fast 35 Jahren, konnte dermaßen stilvoll streiten, dass er es gern zur Kunstform erheben würde. Sie sind wütend und stur und gemein zueinander. Vor allem sind sie laut und direkt. Aber nie verlieren sie den anderen aus den Augen, die emotionale Bindung. Ein gutes Vorbild.
Heute ist alles anders, denn heute geht es um „die Kinder“. Max verzieht leicht das Gesicht und ist froh, dass nicht er das Hauptthema von „die Kinder“ ist, sondern seine Schwester – und ihre depressive Phase, oder wie auch immer man es nennen will. Hans-Werner, sein Vater, hält wie immer zu Elisabeth. Während Heidi, seine Mutter, dieser am liebsten ein paar schallende Ohrfeigen für ihre Dummheiten verpassen würde. Zumindest scheint es gerade darum zu gehen. Die geschlossenen Wagentüren dämpfen die Unterhaltung zu sehr.
Ich finde, sie hat Recht. Hatte er seinem Vater am Morgen im Büro gesagt. Lieschen hat Mist gebaut und sollte tun, was Mama sagt.
Hans-Werner hört so etwas nicht gern. Vater und Tochter gleichen einander so sehr, wie Mutter und Sohn. Was von beiden Seiten gleichermaßen mit Unverständnis und Faszination beobachtet wurde. Immerhin beruhigend, findet Max,dass wir uns gegenseitig ausgleichen, vervollständigen. Emotionalität, höfliche Distanz, professionelles Kalkül, brennende Leidenschaft für eine Sache. Es leben die Schneiders!

Max zieht seine Zigarettenpackung aus der Tasche. Da es um seine Schwester geht, würde der Streit länger dauern. Die Packung ist leer, was mit einem genervten Aufseufzen quittiert wird. Mit langen Schritten geht er um den Wagen herum und klopft an die Fahrerscheibe, hinter der sein Vater wild gestikuliert und gerade lautstark argumentiert. Entschlossen greift Max an den Türgriff und öffnet.

„… Wenn sie der Meinung ist, so war es am besten für Alle, dann ist es eben so! was ist dein verdammtes Problem?“
- „Weihnachten, Hans, Weihnachten! Wo war sie! Nicht, wo sie sein SOLLTE! Und Silvester?“ Die Stimme seiner Mutter klingt wie Eis. Kalt und schneidend.
Ich schreite ein.

Max schnalzt genervt mit der Zunge und atmet hörbar durch. Ein nerviger Tick, wie er findet, aber davon lösen kann er sich nicht. Wenn man Schneider heißt, schnalzt man mit der Zunge wie eine Tussi, um sein Missfallen auszudrücken. Ob man das will oder nicht.
„Meine Zigaretten sind alle. Soll ich mir neue holen, oder nehmen wir endlich unsere „U-Bahn“ und ihr zwei streitet einfach in London weiter? Zusammen mit der Angeklagten, hm?“
- „Er hat recht, gehen wir!“
Heidi Schneider steigt aus dem Wagen aus und zieht den verlängerten Griff aus ihrem Rollkoffer. Dem tatenfreudigen Entschluss seiner Mutter folgend, gesellt Max sich zu ihr und leistet ihr beim wütenden Schweigen Gesellschaft, während sein Vater den Wagen parkt. Er schlendert zu ihnen, als sei die Welt vollkommen in Ordnung, sein Blick streift seinen Sohn, dann seine Frau. Waffenstillstand, eindeutig.

Gemeinsam gehen sie durch die Haupthalle des Bahnhofes und bieten ein bilderbuchhaft harmonisches Bild. Beide Männer hünenhaft groß und gut gebaut, mit gepflegtem Vollbart, in Jeans, Stiefeln und Mantel. Zwischen Ihnen geht Heidi, ebenfalls groß für eine Frau und für ihr Alter gutaussehend und dem Wetter angepasst stilvoll gekleidet. Alle drei sind blond, wenngleich nur Max‘ Haar noch nicht von grauen Strähnen meliert ist. Als sie an dem Buchladen vorbeikommen, fällt sein Blick kurz auf die dunkle Spiegelung seiner Familie und er lächelt.
Heute Abend essen wir wieder zu viert. Dafür wird Mama schon sorgen – und ich freue mich darauf.
Die übliche Demonstration der Stuttgart-21-Gegner hat gerade angefangen, irgendwo draußen hören Sie eine Kundgebung, während hier noch versprengte Teilnehmer übermütig mit Trillerpfeifen die Polizei provozieren wollen. Die Schneiders nähern sich einer Stillgelegten Rolltreppe, die den Zugang zu der „U-Bahn“ bietet. Eine exklusive und recht bequeme Art zu reisen, die vollkommen zu Recht nicht jedem zur Verfügung steht, wie Max findet. Natürlich ist der entsprechende Bereich abgesperrt. Wir warten ein wenig und verschwinden dann irgendwann nach unten.
Seine Eltern haben ihr Gespräch wieder aufgenommen. Heidi hat den Koffer neben der Absperrung abgestellt und gestikuliert hektisch, spricht jedoch wie sie es fast immer tut: ruhig, nur Fakten nennend, auf Notwendiges hinweisend. Ärztin eben. Er klopft seinem Vater auf die Schulter und macht sich auf den Weg zum Tabakshop. Wenn die beiden gleich weitermachen, kann ich auch eben eine rauchen.

Gute zehn Minuten später findet er seinen Vater bereits hinter der Absperrung vor, ungeduldig wirkend und mit den Armen vor der Brust verschränkt. Seine Mutter starrt angestrengt auf ihr Telefon. Vermutlich tut eine App mal wieder nicht, was sie ihrer Meinung nach tun soll. Heikles Thema, also steuert Max direkt seinen Vater an. Er greift nach der Absperrung und zieht sie leicht vor, damit seine Mutter leicht hinter ihm durchgehen kann.
„Max? Deine Tasche steht hier noch?“ Mit ihrem Koffer in der Hand steht sie hinter ihm und deutet auf eine schwarze Reisetasche, direkt an der Rolltreppe. Er macht einen Schritt darauf zu und runzelt verwirrt die Stirn.
„Das ist nicht meine. Ich habe doch meinen Koffer hier.“ Unterstreichend rappelt er am Griff seines Koffers und beugt sich leicht zur Seite, weil sein Vater einen neugierigen Blick über seine Schulter wirft.
„Lass sie stehen, wir gehen.“ Sagt er und wendet sich wieder den Stufen zu.

Im nächsten Moment, nur einen halben Herzschlag, nach dem sein Vater zuende gesprochen hat, besteht die Welt aus einem Knall, hysterischem Kreischen, Feuer – und Schmerz. Maximilian Schneider findet sich bäuchlings über der metallenen Absperrung hängend wieder. Sein Mantel brennt, er hört das Feuer rauschen, so wie sein Blut in seinen Ohren. Und da sind Schreie, von Mann und Frau, die pures Entsetzen spiegeln. Er sieht seine Mutter, auch ihr Mantel brennt, etwa zwei Meter entfernt auf dem Rücken liegend, merkwürdig verdreht. Das Haar schwarz und verkohlt und abgesengt auf der aufgesprungenen Kopfhaut. Sein Blick wird unscharf, verschleiert. Als wollten ihn seine Augen vor dem Schrecken schützen. Seine eigene Kleidung scheint zu schmelzen und sich in seine Haut zu fressen. Unter das stete Rauschen in seinen Ohren, von Blut und Feuer, mischt sich ein langgezogener Schmerzensschrei seines Vaters. Er kann ihn nicht sehen, nur seine Mutter liegt im Blickfeld. Sie schreit nicht, sondern starrt nur stumpf an die Decke der Halle. Sein Vater hingegen…

Gefühllosigkeit stellt sich ein, Schwärze umfängt ihn. Max hört die heraneilenden Ersthelfer nicht mehr, die aktivierten Feuerlöscher, die Sirenen.

Deutsche Nachrichtenerstattung, spätabends:
+++ breaking news +++
Der Bombenanschlag am Stuttgarter Hauptbahnhof forderte einen Toten. Eine Person verstarb direkt am Ort des Geschehens, noch ehe der Rettungswagen sie aufnehmen konnte. Der Zustand der übrigen Opfer sei kritisch, teilte ein Krankenhaussprecher das nahe gelegenen Katharinen-Hospitals mit, aber stabil.
Anscheinend handelt es sich um ein älteres Stuttgarter Ehepaar mit Sohn, die gemeinsam verreisen wollten. Vater und Sohn führen eine renommierte Kanzlei in der Stadt, die bislang jegliche Stellungnahme verweigert. Man müsse zunächst Familienangehörige in Kenntnis setzen.
Gerüchte über einen Terroranschlag oder einen Anschlag der Stuttgart21-Gegner bleiben nach wie vor unbestätigt.
+++ breaking news ende+++