Tag zwei
nachmittags
Dr. Thierbach steht neben der Tochter des Patienten am Sichtfenster zu
seinem Zimmer. Sie klärt sie gerade über seinen Zustand auf, dann
schweigen beide lang, ehe die Ärztin die Stille unterbricht.
„Sie sehen müde aus und sollten sich ausruhen. Wir kümmern uns um ihren Vater und halten sie auf dem Laufenden.”
- „… ehe sie mich wieder dazu zwingen?“ Elisabeths Stimme ist leise und
voller Bitterkeit. Dank der Beruhigungsmittel, die man ihr nach dem Tod
ihres Bruders verabreichte, hatte sie den gestrigen Tag komplett
verschlafen müssen. Als sie am Abend wieder zu sich kam, war Black
wieder mit Kaffee und einem Schokomilchbrötchen zur Stelle. Weil ihr
Magen verräterisch bei diesem Anblick knurrte, konnte sie sich nicht
herausreden, also aß sie widerstandslos, ehe sie wieder an das Bett
ihres Vaters eilte. Dort hatte sie die gesamte Nacht verbracht,
unterbrochen von Ärzten und Schwestern, die sich um ihn kümmerten. Jeder
einzelne empfahl ihr, heim zu gehen. Auszuruhen.
Heim ist nicht dasselbe, ohne sie.
Die Diagnose scheint ungewiss. Sie versteht die medizinischen Begriffe
nicht alle und ist nicht immer konzentriert genug, an den richtigen
Stellen nachzufragen.
Mama hätte alles verständen und Ruhe bewahrt.
Elisabeth wendet sich von der Ärztin ab und verlässt die
Intensivstation. Sie ist überrascht, zum ersten Mal seit Freitagabend
Black nicht in direkter Nähe zu sehen, der auf sie wartet. Ziellos
wandert sie den Gang entlang zum Fahrstuhl und drückt den Rufknopf. Sie
fühlt sich, als würde jeden Moment dieser schreckliche Geisterzustand
wieder einsetzen, als würde sie durch die Welt schweben. Körperlos und
durchsichtig.
Der Fahrstuhl bringt sie ins Erdgeschoss. Als sie durch die
Eingangshalle geht, wühlt sie nebenher in der kleinen Handtasche nach
ihrem Telefon. Elisabeth wundert sich, dass es ausgeschalten ist und
aktiviert es wieder.
Die Drehtür gibt sie frei in die kalte Winterluft. Schnee fällt, ein
Streuwagen fährt vorbei. An der Haltestelle stehen ältere Damen und
unterhalten sich eifrig. Elisabeth bleibt neben einer Krankenschwester
stehen, die zum Rauchen herausgekommen ist und schlingt die Arme um
sich.
Sie trägt keine Winterkleidung. Nur eine Jeans, Bluse, eine ungefütterte
Lederjacke und – natürlich – High Heels. Sie trägt genau das, was sie
am Freitagmorgen angezogen hat, als sie in die Bibliothek zum Lernen
aufgebrochen war.
„Gut aussehen ist bei dem Wetter nicht alles, meine Liebe.“ Die
rauchende Krankenschwester drückt ihre Zigarette aus und hält ihr die
Rollstuhlfahrertür auf. „Gehen sie rein, ehe sie zur Patientin werden.
Der Empfang ruft ihnen ein Taxi.“
Sie kommt der Aufforderung wortlos nach. Lediglich ein schwaches Nicken
hat sie für die Frau übrig. Sie lässt sich zu einer Sitzreihe führen und
sieht sich das Display ihres Telefons an. 27 verpasste Anrufe. 13 SMS. Irgendwie habe ich mit mehr gerechnet.
Die meisten haben eine englische Vorwahl. Einige Stuttgarter, unter
anderem das Büro der Kanzlei vor Ort. Der Apparat der Sekretärin ihres
Vaters, erkennt sie.
Sie wollen wissen, ob der Chef noch lebt.
Die Nummern, die sie sucht, findet sie nicht. Weder die eine, noch die andere.
Elisabeth blättert durch ihre Kontakte und stößt auf eine Nummer, die
sie lange nicht gewählt hat. Sie kennt sie auswendig und liest sie im
Geiste mit, als sie auf dem Display erscheint.
Ob ich anrufe und es ihm sage? Und dann? Was ändert es? Wenn ich
auflege sind sie noch tot, Papa noch im Koma und ich immernoch allein.
Ich will sein Mitleid nicht. Ich brauche es, aber ich WILL es nicht.
In einer wütenden, endgültigen Geste schaltet sie das Telefon wieder aus
und stopft es eilig zurück in die Handtasche. Sie lehnt sich auf dem
Sitz zurück, schließt die Augen und atmet tief aus.
Sie kann leise Schritte hören, jemand steht vor ihr und wartet, dass sie
die Augen öffnet. Aber Elisabeth will das nicht. Sie will niemanden
sehen und mit niemandem sprechen.
„Miss Schneider, ich habe ihnen aus dem Haus Winterkleidung ins
Hotelbringen lassen. Die Haushälterin war so freundlich.“ Es ist Black.
Wer sonst. Niemals hätte sie geglaubt, er sei nicht in der Nähe, auch
wenn sie ihn nicht sieht.
„Irmgard hat einen schrecklichen Geschmack.“ Sie öffnet die Augen dann
doch noch und sieht zu dem großen Mann auf. Keine höfliche Antwort. Sie
wollte nur das übliche Schema unterbrechen: Black tut etwas für sie, sie
sagt „danke“.
Er nickt und reicht ihr die rechte Hand. Als sie nicht gleich zugreift,
fasst er nach und zieht sie auf die Beine, als wöge sie gar nichts.
„Kommen sie, ich stehe im Halteverbot. Ich bringe sie zum Hotel. Sie
duschen und gehen ins Restaurant. Die machen ein hervorragendes Steak.“
„Danke, aber…“ Black unterbricht sie.
„Miss Schneider, sie müssen essen. Und trinken. Essen sie ein Steak,
sonst püriere ich eines und flöße es ihnen ein. Sie schaffen das sonst
nicht.“
Elisabeth sieht ihn blinzelnd von der Seite an, als er sie zum Wagen
führt. Ein Wagen der Kanzlei, eine C-Klasse. Er öffnet ihr die Tür und
lässt sie einsteigen. Als er um die Front herum zur Fahrertür geht,
antwortet sie ihm leise und trotzig: „Ich will das nicht schaffen.“
Dann lässt sie sich von ihm ins Hotel bringen und tut genau das, was er ihr sagte.
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