28 Jan 2013

Frau Schneider und die Handwerker (5)

Eine Woche nach dem Vorfall
Frühmorgens

Elisabeth sitzt in Unterwäsche auf der Bettkante in ihrem Hotelzimmer. Langsam zieht sie einen seidenen Strumpf über das linke Bein, über das Knie, bis zum Oberschenkel. Sie streicht sachte mit den Fingerspitzen am Bein entlang, streckt es aus und prüft den Sitz.
Sieht gut aus….

Er muss nicht mehr beatmet werden.

Das ganze wiederholt sich am rechten Bein. Sie zieht den dünnen Stoff über die Haut, streicht ihn glatt, testet den Sitz.
Gute Qualität…
Vielleicht schafft er es, kann dann aber nicht mehr laufen.

Dann steht sie auf und tritt näher an den Spiegel. Mit einer Vierteldrehung prüft sie, ob der Bund der Strümpfe an der Hinterseite auch keine Falten hat. Sie zupft kurz daran herum.
Gut so…
Wenn er von ihrem Tod erfährt, wird er brechen.

Die große blonde Frau wippt kurz auf den Fußballen und fischt dann eine schimmernde weiße Bluse vom Bett. Ein Schlichtes Model mit weiten Ärmel und einem schmalen Stehkragen. Sie schlüpft in das teure Stück und prüft auch dessen Sitz vor dem Spiegel.
Wie für mich gemacht…
Und wenn er nie wieder arbeiten will? Was wird aus der Firma?

Elisabeth greift nach dem dunkelgrauen, maßgeschneiderten Rock in Knielänge. Ein Schmales Model, passend zu ihren langen Beinen. Sie zieht ihn an und zieht den kurzen Reißverschluss hinten zu, ohne hinzusehen. Anschließend greift sie nach der passenden Jacke und schlüpft hinein. Erst als sie die Knöpfe schließt, einen nach dem anderen, wendet sie sich wieder ihrem Spiegelbild zu.
Hier fehlt doch etwas…
Ich will die Firma nicht. Ich werde nicht unterschreiben, gar nichts.

Die Hände in die Seiten gestemmt sieht sie sich um, bis ihr Blick an dem Schuhkarton hängenbleibt. Sie schnalzt leise mit der Zunge und öffnet diesen. Dunkelgraue Pumps, irgendein Designer, dessen Model zum Kostüm passt. Sie hat nicht auf das Label geachtet, als sie der Kassiererin ihre Kreditkarte reichte. Ein bisschen zu hochhackig für's Büro.
Aber ich will nicht, dass dort irgendjemand vergisst, dass ich nur die Tochter bin. Die unfreiwillige Erbin. Nicht sein Nachfolger. Blondes Dummerle ist okay für heute. Sie sollen nicht erwarten, dass…
Ein prüfender Blick geht über das elegant und nicht zu auffällig hochgesteckte Haar. Sie ist blass, aber das ist nicht schlimm. Jeder weiß, dass sie die letzten Tage mit Weinen und Warten am Bett ihrer Vaters verbracht hat. Ein bisschen Mascara und eine farblich zum Kostüm passende Brille ohne Stärke in den Gläsern täuschen über die müden Augen und den kraftlosen Blick hinweg.
Die Presse will ein Foto, die Hauptquartiere wollen eines. Also bekommen sie ihr Foto. Die Partner und Templerfamilien wollen einen Schneider sehen, also bekommen sie eine Schneider. Die, die noch übrig ist. Groß, blond, gutaussehend. Status Quo seit unzähligen Generationen.
Das Klingeln des Zimmertelefons reißt sie aus ihren Gedanken. Nach kurzem Zögern nimmt sie ab, sagt aber nichts. Sie horcht nur.
„Miss Schneider, nehmen Sie den Fahrstuhl in die Tiefgarage. Ich hole sie ab.“ Klick. Aufgelegt.
So ist Joshua Black, immer zur Stelle. Nie unnötige Worte.
Elisabeth greift eilig nach Handtasche, Schal und Mantel und macht sich wie gewünscht auf den Weg.

Der Vormittag zieht an ihr vorbei, als wäre sie in Watte gepackt. Nicht einmal das Blitzen der Kameras blendet. Es wirkt gedämpft, wie alles andere. Heinrich Brenner, eine langjähriger Freund ihres Vater und wichtigster Partner in der Kanzlei, übernimmt das Reden für Sie. Sie steht neben ihm, wunderschön, traurig und verloren wirkend. Später lobt er sie für ihr zurückgenommenes und professionelles Verhalten.
Als sie sich an den großen Konferenztisch in der Kanzlei setzen, sitzt er links von ihr. Black nimmt rechts Platz – und das nur zögernd. Der kurze Disput der beiden Männer, ob sie nicht tauschen sollten, zieht an ihr vorbei. Ihr Blick ist auf einen der Weinhänge gerichtet, die den Talkessel der Stadt umgeben, ohne einen bestimmten Punkt zu fixieren.
„Kopftot“ hat Max diesen Zustand genannt.
Eine Sekretärin stellt ihr Kaffee hin. Elisabeth fällt auf, dass auf der Untertasse drei Kekse liegen. Sie spielt höflich mit und isst sie alle langsam auf, während Heinrich Brenner die ersten Formalitäten des Nachlasses ihres Bruders und ihrer Mutter mit den zuständigen Notaren bespricht.
Wir können nichts tun wie normale Leute. Ich komme mir vor wie in einem Hollywood-Streifen.
Das meiste nickt sie geistesabwesend ab. Über ihr neu erworbenes Vermögen will sie keine Sekunde lang nachdenken. Jedes Mal, wenn Brenner oder Black ihr einen Stift reichen, unterschreibt sie an den markierten Stellen mit ihrem vollen Namen.
Elisabeth Maria Schneider. Die Schwester und Tochter, die all das hergeben würde, um ihre Familie zurückzuholen.
„Meinen Glückwunsch, Frau Schneider.“ Die Notare, es sind zwei, stehen auf. Der Dicke hält ihr die feiste Hand hin. „Sie sind jetzt Millionärin.“
Elisabeth hebt den Blick, sieht ihn an. Aus den Augenwinkeln sieht sie wie die beiden Männer neben ihr sich anspannen. Beide holen Luft, um sie in mahnende Worte zu kleiden. Mit der Rechten hält sie ihre Tasse, diese stellt sie jetzt ab und hebt kurz die Hand in einer abwehrenden Geste für die Beiden. Nur wenige Centimeter, aber es reicht aus. Das Lächeln des Dicken erstirbt augenblicklich.
„Entschuldigung, mein Kollege wollte… Er…“ Der andere Notar setzt zu einer Entschuldigung an, Elisabeth reagiert nicht. Einige Sekunden lang hält sie den Blick auf dem dicken Mann, ehe sie leise und gefasst etwas fragt.
„Heinrich?“
„Frau Schneider?“ Er klingt hörbar erleichtert über ihren Tonfall, findet sie.
„Verwalten diese Männer auch meinen Nachlass?“
„Wir finden jemand anderen.“
„Danke.“ Sie nickt und nimmt ihre Tasse wieder auf, um den letzten Schluck daraus zu trinken.
Wie die Männer das Büro verlassen, bekommt sie nicht bewusst mit.

Wie lange es danach still im Raum war, weiß Elisabeth nicht. Sie findet erst zurück in den Augenblick, als Black ihr seinen Keks mit einem peinlich berührten Lächeln auf die Untertasse schummelt.
Wie untypisch ungeschickt von ihm.
Heinrich Brenner hingegen öffnet eine Mappe und beginnt ansatzlos laut zu lesen. Bereits nach den ersten Sätzen wird ihr klar, dass es die Erklärung ihres Vaters ist, die dem nächsten Verwandten im Falle von Abwesenheit, Krankheit oder Todesfall seinen Platz in der Kanzlei überantwortet. Sie schnappt hektisch nach Luft und will ihn davon abhalten, weiter zu lesen. Milchweiß im hübschen Gesicht sieht sie mit an, wie der alte Mann mit der Mappe in der Hand aufsteht und sich auf die andere Seite des Konferenztisches begibt.
„Hören Sie auf. Ich kann das nicht, ich will das nicht.“
Unbeirrt kramt Black in der Innentasche seines Jacketts, kurz darauf liegt eine weiße kleine Tablette auf dem Tisch, irgendwoher hat er ein Glas Wasser gezaubert. Das Beruhigungsmittel aus dem Krankenhaus.
„Nehmen sie das bitte erst, wenn sie unterschrieben haben. Das hier muss unanfechtbar sein.“
Elisabeth atmet flach und schnell, beide Männer sehen sie mit schmerzhaft endloser Geduld an. Und Verständnis. Ich hasse sie dafür.
„Elisabeth.“ Heinrich Brenner und seine Märchenonkelstimme. Er hat zwei Doktortitel, fällt ihr ein. Ich war in seinen Vorlesungen. Er hatte Streit mit Papa wegen einer schlechten Note bei mir. Er kann mir alles beibringen, was ich über Schneider und Partner wissen muss. Alles wird gut.
„… Wir haben darüber gesprochen. Sie wollen unterschreiben.“
„Wann? Wann habe ich…“
„Heute Morgen. Vor den Partnern und dem Orden und der Presse.“ Black mischt sich in das Gespräch ein. „Sie und Mr. Brenner haben es gemeinsam angekündigt.“
„Und wenn er aufwacht und zurückkommt? Vielleicht morgen?“ mit dem gleichermaßen traurig und hoffnungsvollem Blick einer Sechsjährigen sieht die eigentlich sechsundzwanzigjährige Frau zu Brenner auf. Alles wird gut, sag es!
„Dann wird er sich erholen müssen, vermutlich in die Reha. Das wird dauern, Elisabeth. Das hier deckt Krankheitsfälle ab. Erst wenn er wieder vollkommen gesund ist, wofür wir alle beten, ist dieses Schriftstück wertlos und du kannst wieder Tochter sein. Oder Model. Oder auch Anwältin.“
„Meine Prüfungen…“
„Wir haben beantragt, dich unter diesen besonderen Umständen eher prüfen zu lassen. In den Staaten ginge es, hier in Tübingen… Nun ja, deutsche Bürokratie. Wir arbeiten daran.“
„Mr. Brenner sagt, bis es soweit ist, können sie die Firma führen. Sie dürfen sich nur nicht mit Rechtsfällen befassen. Diese Firma ist mehr als nur eine Kanzlei.“ Wieder Black.
Wann zur Hölle hat er das Team gewechselt von Schneider zu Brenner?!

Elisabeths Blick wandert wieder zu den verschneiten Weinbergen. Sie lässt Minute um Minute verstreichen, bis ihre schlanken Finger schließlich nach dem Stift tasten.
„Heinrich, sie müssen mir helfen.“ Flüstert sie resigniert, als der alte Mann sich ihr mit der Mappe und den Dokumenten nähert.
„Werde ich. Wir können nach London gehen, in das neue Büro. Wenn sie sich dort wohler fühlen, meine ich. Seit ich meine Hanna verloren habe… Nun, sie wissen Bescheid.“
Johanna Brenner. Seine Frau. Verstorben vor zwei Jahren an Krebs… Ich mochte Tante Hanna sehr gern, als ich noch klein war.
„Und Papa?“
„Wir holen Hans-Werner nach England, wenn es so für Sie besser ist. Machen sie sich keine Sorgen. Sie schaffen das, wir helfen Ihnen.“
Elisabeth nickt geschlagen und unterschreibt wieder. Elisabeth Maria Schneider.
Als sie mit den Dokumenten fertig sind, bringt die namenlose Sekretärin Kuchen herein und schenkt Kaffee nach. Sie rührt ihren nicht an, während sie sich mühsam am Smalltalk über die Firmengeschäfte zu beteiligen versucht. Vergeblich.
„Kommen Sie, Miss Schneider. Ich bringe sie zu ihrem Vater.“ Wieder ist es Black, der die Situation für sie rettet. „Unterwegs muss ich ihnen mit einer ihrer neuen Pflichten vertraut machen. Die Liste der im Einsatz vermissten Mitarbeiter.“ Er erklärt wie immer alles sachlich und ruhig. Dennoch ist sie alarmiert.
„Ist jemand von uns dabei?“
„Sozusagen. Kommen sie, ich zeige es Ihnen.“
Als sie aufsteht und ihm nachgehen will, fällt ihr Blick auf den Keks auf ihrer Untertasse, den er ihr untergeschmuggelt hat. Ein Ablenkungsmanöver, stellt sie nüchtern fest.

Niemand hat mir gesagt, dass alles gut werden wird.
 

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