Berichterstattung, templerintern
Hausmitteilung in allen Hauptquartieren
jedem Mitglied des Ordens zugänglich
Wir möchten sie darüber informieren, dass am gestrigen Abend an einem
deutschen Großstadtbahnhof wieder ein Bombenanschlag verübt wurde.
Dem Sprengsatz sind drei Mitglieder einer unserer ältesten Familien zu
Opfer gefallen. Es handelt sich hierbei um die deutschstämmige Familie
Schneider mit Sitz in Stuttgart.
Bisher ist unklar, ob es sich dabei um einen Zufall handelt, oder ob der Anschlag gezielt gegen uns gerichtet war.
Bitte achten sie verstärkt auf ihre Umgebung, haben sie ein wachsames
Auge auf jene von uns, die als interessante Ziele gelten könnten.
Verwandte und Bekannte der Familie richten sich bitte direkt an die hiesige Kontaktperson der Firma.
(für London: Mr. Joshua Black)
Tag eins
Morgens
Elisabeth sitzt in der üblichen Krankenhaus-Schutzkleidung am Bett ihres
Vaters. Um sie herum Monitore, Kabel, Schläuche, Perfusoren. Er
befindet sich noch im Koma und wird sogar beatmet. Seit Stunden sitzt
sie hier, still und tränenlos. Sie starrt ihn an, als würde das
bewirken, dass er die Augen aufschlägt, sich allem entledigt und mit
einem lockeren Spruch auf den Lippen den Raum auf der Intensivstation
verlässt. Er schlägt die Augen nicht auf, keinerlei Regung geht von ihm
aus, nicht einmal ein Zucken des Augenlides.
Ungefähr um Mitternacht hat sie das Krankenhaus betreten. Joshua Black
hat sie begleitet, an allen möglichen und unmöglichen Stellen mit seiner
Visitenkarte gewinkt, bis sie schließlich in einem Warteraum
platznehmen konnten, um auf das Ende der Operationen von Vater und
Bruder zu warten.
Sie blinzelt, ihre Augen brennen. Der Schock über die so greifbare
Möglichkeit, über Nacht die gesamte Familie zu verlieren, sitzt tief. So
tief, dass sie vergisst zu blinzeln. Oder zu trinken. Oder etwas zu
essen. Eine Schwester betritt den Raum und legt ihr eine Hand auf die
Schulter.
Diese warme, menschliche Geste reißt Elisabeth aus ihrer Apathie, sie zuckt zusammen und sieht die ältere Dame aufgeschreckt an.
„Ihr Bruder kommt gleich auf die Station. Dann können sie ihn sehen, aber erwarten sie nicht Zuviel.“
- „Sicher nicht.“ Sie muss sich räuspern, ehe sie antwortet.
„Ihr Verlobter hat nach Ihnen gefragt, er hat ihnen Frühstück besorgt, Frau Schneider. Essen sie etwas.“
Elisabeth blinzelt zunächst irritiert, dann kehrt die Erinnerung zurück.
Am Empfang hatte Black sich als ihr Verlobter vorgestellt, um Umständen
aus dem Wege zu gehen, die ihn als nicht-Angehörigen ausgegrenzt
hätten. Sie nickt. Zwar hat sie keinen Hunger, aber eine Diskussion mit
einer Krankenschwester ist im Augenblick das Letzte, was sie will. Also
steht sie schwerfällig auf und verlässt den Raum. In der Schleuse lässt
sie die Schutzkleidung zurück und setzt sich neben Joshua Black, der
tatsächlich einen Becher Kaffee ein eine Papiertüte mit einem belegten
Brötchen in der Hand hält. Er schweigt und drückt ihr sanft, aber
nachdrücklich beides in die Hand. Außerdem legt er ihr die Handtasche
wieder auf den Schoß, die sie ihm eilig anvertraut hatte, als sie zu
ihrem Vater hinein durfte.
„Ich habe ihr Telefon ausgeschaltet, Miss Schneider.“
- „Danke.“
Sie wollte niemanden sprechen. Die Situation war so unwirklich, dass es einem Fluch nahekam, sie in Worte zu fassen. Wenn ich es ausspreche, ist es real. Dann ist Mama tot, und Max und Papa …
Elisabeth schnappt nach Luft und legt die Brötchentüte neben sich auf
den freien Stuhl. Sie nimmt den Plastikdeckel vom Kaffeebecher und
trinkt einen Schluck. Die heiße Flüssigkeit fühlt sich gut an. Trotzdem
verspürt sie gerade weder Hunger noch Durst. Trinken bewahrt sie vor
einem Gespräch, also trinkt sie langsam weiter und Black schweigt.
Am gestrigen Abend erhielt Elisabeth eine SMS von ihrer Mutter. Der Text
war simpel: „Wir besuchen dich, Lieschen! Reservier einen Tisch für 4.
Hab dich lieb, Mama.“
Sie saß gerade wieder in der Bibliothek an ihren Büchern und war
verärgert darüber. Ein unangemeldeter Besuch. Den gewünschten Tisch
hatte sie absichtlich nicht bestellt, auch nicht ihren Lernplatz
verlassen. Sie wollte ihre Ruhe, allein sein. Das galt sogar für ihre
Familie.
Nicht mal eine Stunde später klingelte dann das Telefon. Dreimal hatte
sie Black weggedrückt, aber er gab nicht auf. Zwischendurch leuchtete
eine deutsche Nummer auf, genaugenommen eine Stuttgarter, also nahm sie
das Gespräch an und hörte sich die grauenvollste Nachricht ihres
bisherigen Lebens an. Zunächst wollte sie es nicht glauben, beschimpfte
die Anruferin als Wahnsinnige. Während sie mit der Ärztin telefonierte,
einer Kollegin ihrer toten Mutter die versuchte einfühlsam zu sein,
eilte Black in die Bibliothek. Er nahm ihren Laptop, öffnete die Seite
eines deutschen Nachrichtensenders und zeigte ihr die bestätigende
Meldung.
Danach ging alles schnell. Sie verließen das Gebäude, ließen alles so
zurück wie es war: die Bücher offen und unordentlich gestapelt, ein
Teller mit Keksen und Geleebananen, die sie sehr mochte. Ein
Thermobecher mit Kaffee, der eingeschaltete Laptop, der die Seite des
Nachrichtensenders zeigte.
Vermutlich steht alles noch unverändert dort.
Black nahm sie am Arm, zog sie hinter sich her. Elisabeth fühlte sich
wie ein Geist. Als wäre sie damals, vor zwei Monaten, wirklich gestorben
und nicht nur aus Wut und Enttäuschung über ihr Versagen im
übertragenen Sinne für tot erklärt worden. Sie fühlte sich ätherisch,
unwirklich, beobachtete sich selbst aus der Vogelperspektive. Blass, mit
blutenden Händen, leerem Blick, davon gezerrt von dem dunkelhäutigen
Mann.
Erst als die Ärztin vom Telefon sie vor Ort über den Zustand ihrer
Familie aufklärte, änderte sich ihr Zustand. Sie war ausgeflippt, hatte
die Ärztin angeschrien und beschuldigt, bis Black und ein kräftiger
Pfleger ihren hysterischen Anfall unterbrachen und man ihr ein
Beruhigungsmittel aufzwang.
Ich hasse sie trotzdem, auch wenn sie nur der Bote ist.
„Ich habe ihnen ein Zimmer reserviert, im Steigenberger. Fünf Gehminuten, dann müssen sie nicht zu ihrem Haus fahren.“
- „Ich will hier nicht weg.“
„Ich weiß, Miss Schneider.“
Seine Ruhe irritierte sie. Zwar ist ihr aufgefallen, das im Deutschen
sein amerikanischer Akzent stärker durchbrach als sonst und er hin und
wieder ins englische verfiel. Dennoch strahlte er stets die altbekannte
stoische Ruhe aus. Was gut ist. Aber nichts besser macht.
Elisabeths Gedanken werden von der Ärztin unterbrochen, Dr. Thierbach.
Sie nähert sich beherzt, als hätte sie Mut zu fassen und setzt sich
neben sie Auf den Stuhl, wobei sie die Brötchentüte in die Hand nimmt.
„Ihr Bruder ist jetzt auf der Station. Wir haben für ihn getan, was…“
Der Geist-Zustand setzt wieder ein. Sie kennt diese Art Gespräche
anzufangen von der eigenen – nun toten – Mutter. Es ist die Einleitung
für ein vernichtendes Urteil. Ein Todesurteil. Sie starrt Dr. Thierbach
auf den Mund, hört aber nur lautes Rauschen in den Ohren. Einen
Wimpernschlag später scheint sie wieder von oben auf sich selbst herab
zu sehen. Black greift nach ihrer Hand. Sie selbst zittert sichtbar und
ist schlagartig erblasst, milchweiß.
Minutenlang reden beide auf sie ein, ohne dass sie auch nur ein Wort
versteht. Dann hilft Black ihr Auf und die Ärztin führt sie zurück in
die Schleuse, hilft ihr mit der Schutzkleidung und bringt sie zu Max ins
Zimmer. Erst als sie die Tür hinter Elisabeth schließt und am
Sichtfenster stehenbleibt, verschwindet die Verrückte Vogelperspektive
wieder.
(Der Text ist zu lang, daher zwei Postings)
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