8 Jan 2015

Aithne und der Wolf

Er geht immer der Sonne entgegen
Auf der Flucht vor dem Regen
Er bleibt in Bewegung, auch wenn sie nachts nicht scheint
Egal wie kalt, egal wie weit
Seine Beine ihn tragen, vielleicht holt er sie ein
Der Sonne entgegen
Auf der Flucht vor dem Regen
Bleib in Bewegung, auch wenn sie nachts nicht scheint
Egal wie kalt, egal wie weit deine Beine dich tragen
Vielleicht holst du sie ein


Der Gecko windet sich als Tätowierung über Haut und Muskeln, die Wirbelsäule entlang, den flexiblen Körper gebogen und das hungrige Maul weit aufgesperrt. Im frühen Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, steht Aithne neben dem Bett und genießt diesen Anblick in Ruhe und Frieden. Ausnahmsweise keine Diskussion, kein „Nerv nich!“ kein „Halt die Fresse“ und kein „Ich will sauf'n und meine Ruhe!“.


Als ihre Hände sich unbewusst zur Faust ballen, spürt sie das Lederband und das kalte Metall des Schlüssels, der daran befestigt ist. In einem Anflug von Resignation hatte sie ihm den Schlüssel zum Rumschrank ausgehändigt und ihm nicht eine, sondern gleich zwei Flaschen vor die Nase gestellt. Ein Wink, den er natürlich nicht verstanden hat. Vielleicht sollte ich es machen wie mit Freddy. Ihn provozieren, bis er sich vergisst. Ein dumpfer, verzweifelter Gedanke schleicht sich in das kleine Zimmer und flüstert ihr einen verlockenden Ausweg zu. Bis er auf mich losgeht. Aber kann ich ihm das antun? Kann er mich dann noch ansehen, wenn er im Suff so ausgeflippt ist? Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt dieser Typ Mann... Zur Ablenkung von diesem zerstörerischen Plan setzt Aithne sich auf das Bett, legt ihm ihre Hand auf den Rücken, um die Wärme zu spüren. Seinen regelmäßigen Atem – und es funktioniert. Das Lied hat ihm gefallen, stellt sie schmunzelnd fest. Weil er sich darin wieder gefunden hat. Meine Bestätigung hat ihm gefallen. Ein normaler und ruhiger Moment zwischen den Beiden, an den sie sich gern erinnert.


Der Hunger so groß, immer auf der Jagd
Die Augen Gold, und die Zähne sind scharf
Der Raum zu eng zum Atmen
Doch auch die aller schärfsten Krallen werden stumpf auf der Straße
Darum nur Knappheit, ein knurrender Magen
Es gibt fast nur noch Wölfe verkleidet als Schafe
Also zieht er hier weg…


So viele Zeilen und die Gefahr, sie bis morgen vergessen zu haben. Oder sich nicht an die richtigen, passenderen Worte zu erinnern und es beim nächsten Mal falsch zu singen. Üblicherweise vertraut die Piratentochter auf ihr gutes Gedächtnis. Üblicherweise gibt sie sich aber auch nicht so viel Mühe, einem anderen etwas Gutes zu tun. Üblicherweise ist es ihr egal, ob sich ihre ausgedachten Lieder jedes Mal im Wortlaut ändern. Sie singt um des Singens willen, um das Lied der Stadt zu übertönen. Nicht für ein Publikum. Nur ein Hinweis darauf und die Anmerkung, dass es so ist, weil sie es nicht aufschreiben kann. Unterschwellig leises Betteln, er möge ihr das bitte abnehmen. Alles, was er versteht ist Selbstmitleid.


… weil auf verbranntem Boden keine Pflanze mehr wächst
So bleibt der Rest für den Rest
Denn nur wer als erster kommt ist der, der immer genügend Fleisch hat
Vom Gamma zum Alpha, vom Welpen zum Leitwolf
Ist einer der besten, einer der letzten dieser Art
Teilt sein Fressen auch mit dem schwächsten Glied der Kette, wenn es ihn fragt


Selbstmitleid. Gleich zwei Mal musste sie sich das anhören und es war vorbei mit der Piratengeduld. Zurückschimpfen und –schreien, dass kann sie. Sehr viel besser als ertragen. Sie sieht so viel Schmerz, so viel Einsamkeit. Ertragen würde akzeptieren bedeuten. Würde bedeuten, dass sich nichts mehr ändern kann, nicht mehr bessern kann. Ertragen bedeutet, dass der Schmerz bleibt und zerstört, was übrig ist. Wie das Lied der Stadt, in der sie leben.


Es geht um so viel mehr als Stärke, um Zusammenhalt und Werte
Es ist um so vieles tiefer als deine Wunden jemals werden
Gehen zusammen durch das Feuer bis zum Tag an dem wir sterben
Und finden vorher mit Glück noch ein Stück grüner Erde
Heulen den Mond an und schreien unsere Gebete Richtung Himmel
Reden dann nur damit sie hören, nicht wegen dem Klang unserer Stimme


Jetzt braucht sie also ein Messer. Oder eine Pistole. Außerdem weiß sie, dass Kalle sauer sein wird, wenn sie das Messer einfach verkauft und sich in Zukunft nicht mehr an ihn wenden wird, damit sie den verletzten Stolz nicht mehr ertragen muss.

Verletzter Stolz, ja. Weil ein anderer den Auftrag hatte, das Messer zu besorgen. Die Augen schließend stößt die Piratentochter ein genervtes, mühsam beherrschtes Seufzen aus. Wir haben nichts gemeinsam. Die Kette mit dem Schlüssel hängt sie sich um den Hals und lässt sie unter dem Hemd verschwinden, dass sie zum Schlafen trägt. Nur Löwenstein. Nur Schmerz. Die nun ebenfalls freie Hand findet ebenfalls ihren Platz auf seiner warmen Haut. Wir sind unfähig, einander zu verstehen. Gemeinsam schieben sich die Finger den Rücken hinauf, bis an die Schultern. Aithne stützt sich ab, als sie über den Mann geklettert, um ihren Platz auf der anderen Seite einzunehmen. Dabei neigt sie den Kopf vor und setzt ihm einen vorsichtigen Kuss zwischen die Schulterblätter, einen zweiten in den Nacken, lauscht im Anschluss, ob er zu motzen beginnt.

Als das jedoch ausbleibt und sie ihn lange genug beim Schlafen angestarrt hat, dass sie sich den Ansatz eines zufriedenen Lächelns in seinen Mundwinkeln einbilden kann, zieht sie Decken und Felle über ihre Körper und rückt näher an ihn heran.

Mit peinigender Intensität wünscht sie sich ausreichend Kraft herbei, aufzustehen und zu gehen, Nie wieder zurück blicken zu müssen. Flüchten zu können. Das grausame Lied Löwensteins gegen Stille zu tauschen. Gleichzeitig sieht sie ihm beim Schlafen zu, hört das leise Schnarchen und beginnt debil grinsend ein inbrünstiges Gebet, dass ihr dieser Wunsch niemals erfüllt wird. Es gibt zu viel zu tun.


Wir werden gesteuert von Instinkten in einer Welt die nur berechnet
Wo Ehrlichkeit eine Schwäche, alle ihre Lügen schon Gesetz sind
Wo es heißt beiß lieber zu oder du wirst dann gefressen
Wo loyal nicht existiert, sondern nur als Wort in deinen Heften
Freundschaft nicht mehr funktioniert, wenn man dann anfängt zu leben
Wo die Kinder nicht mehr nur kämpfen sondern stechen - komplett verblendet
Und von perfekt sind wir so unendlich weit weg
Doch was nicht umbringt macht uns stärker
Und die Hoffnung stirbt zuletzt
Sie stirbt zuletzt


Als sie einschläft, sind ihre Träume beherrscht von einem rudellosen Wolf, der eine schier endlose Straße entlang läuft, ihr immer ein Stück voraus.


Er geht immer der Sonne entgegen
Auf der Flucht vor dem Regen
Er bleibt in Bewegung, auch wenn sie nachts nicht scheint
Egal wie kalt, egal wie weit
Seine Beine ihn tragen, vielleicht holt er sie ein
Der Sonne entgegen
Auf der Flucht vor dem Regen
Bleib in Bewegung, auch wenn sie nachts nicht scheint
Egal wie kalt, egal wie weit deine Beine dich tragen
Vielleicht holst du sie ein


No comments:

Post a Comment