7 May 2018

Grey Matter

Dunkelheit und Nebel, wahlweise Regen.
Das ist alles, was Ebha seit dem gestrigen Abend an diesem Ort durch das Fenster sieht. Laut der Aussage ihrer jungen Mitbewohnerin soll es wohl auch dabei bleiben. Die Priesterin selbst stört sich weder an einem, noch am anderen. Nebel dämpft Geräusche, lässt scharfe Konturen zu geisterhaften Schemen verschwimmen und alles wirkt grau und neutral...



Eine schöne Farbe, meine Lieblingsfarbe. Grau kann leuchten wie der Mond und gleichzeitig Licht verschlucken wie der Schatten. Nichtssagend und doch so aussagekräftig. Strahlend wie Silber, gefährlich wie ein Sturm.

“… und Regen erfrischt den Durstigen, kühlt erhitzte Gemüter. Wasser ist Segen.”

Jetzt hör schon auf damit.

Die Enddreißigerin tupft zwei Punkte in die beschlagene Fensterscheibe, darunter einen Bogen. Ein lächelndes Gesicht. Etwas, dass sie mit der Erinnerung in ihrem Kopf verbindet. Etwas, dass Freienhain gewiss eine ganze Weile nicht erlebt hat - und das aus gutem Grund. In diesem Dorf lebt eine Gemeinschaft, deren Mitglieder an ein Wesen gebunden sind, vermutlich einem Diener der alten Götter. Allesamt unfreiwillig.
Sie selbst ist nun ein Teil davon.



Mit der Handelsgenehmigung im Gepäck hatte die Priesterin vor ein paar Tagen Dunkelhain verlassen, um nach Gerfelden zu reisen. Sie ließ ihren derzeitigen Novizen dort zurück und trug ihm auf, die anstehende Beerdigung selbst zu betreuen. Er wirkte angemessen unsicher, aber auch stolz auf ihr Vertrauen das sie nicht zum ersten Mal zeigte. Also hatte sie keine Zweifel, dass er es nicht enttäuschen würde.
Tatsächlich hatte sie ihn längst zur Weihe vorgeschlagen und ihn deswegen gebeten, nach getaner Pflicht direkt nach Sturmwind zurück zu kehren und nicht auf sie zu warten. Sie würde schon zurechtkommen. Ich bin ja nicht aus Zucker gebaut, hatte sie schmunzelnd angemerkt. Nein, eher so aus dunklen Drahtseilen und lichten Peitschensträngen, hatte er lachend zurück gegeben und sich verdrückt, ehe sie schimpfen konnte.

Ebha wurde nach Gerfelden gerufen, um einem Sterbenden beizustehen und die nachfolgende Beerdigung durchzuführen. Sie stellte gleich fest, dass ihr Ruf von Sturmwind ihr hierher in den letzten Winkel eines lichtverlassenen Ortes vorausgeeilt war. Eine Frau und zwei Kinder mit Schrammen, Prellungen und Blutergüssen, geschickt versteckt unter der Kleidung. Der Patient selbst ein Berg von einem Mann, auch nahe dem Tode noch voller Zorn und Missgunst, mit Schrammen an den Fingerknöcheln und Kratzern an den Handgelenken, unterschiedlich lange Kratzer in unterschiedlichen Heilstadien, gruppiert auf beiden Seiten zu jeweils vier. Er starb im Fieber an den Folgen von Wundbrand, durch eine unbehandelte Bauchverletzung durch einen gezackten Gegenstand. Als sie ankam, zerbrach die Mutter mit den Kindern gerade einen Stuhl, dem ein Bein zu fehlen schien, um ein Feuer im Kamin zu machen.

Es waren diese verzweifelten Familien, die schwierigen Fälle, die sie brauchten und ihr anvertraut wurden. Diejenigen, die im Grunde ihres Herzens lieber Feiern als Trauern wollten. Diejenigen, die keine Trauerbegleitung benötigten, sondern ein gutes Gespräch über die Verantwortung des Überlebenden. Diejenigen, die nicht hören wollten, dass die Seele des Verblichenen nun ihren Frieden im heiligen Licht finden würde. Sie mussten vielmehr von ihrem Priester hören, dass sie in Sicherheit waren. Sie mussten dringend hören, dass sie es wert waren und immer sein würden. Gerettet, frei.
Die meisten Familien in Trauer baten sie zum Abschied um ein gemeinsames Gebet. Sie spannen Zukunftspläne, direkt danach, die sich in der Regel um das Verlassen des jeweiligen Ortes drehten, um woanders neu anzufangen.

In diesem Fall war es anders. Die Familie wirkte mechanisch auf Ebha. Sie hatte Mühe, durchzudringen. Sie spürte die üblichen Veränderungen unter der Oberfläche, aber die grundsätzlich depressive Grundstimmung schien an ihnen zu haften wie Federn an flüssigem Pech. Sie machten keine Pläne, gingen zu ihrem Alltag über und ließen die Priesterin gehen, ohne Gruß.
Ebha nutzte den nachfolgenden Nachmittag damit, die Stadt anzusehen und über dieses Verhalten zu sinnieren. Ihr fiel auf, dass die gesamte Bevölkerung sich ähnlich benahm.
Der Spaziergang über den Markt war nicht von der üblichen Geräuschkulisse geprägt, zumindest nicht in der Vielfalt, wie sie es von anderen Orten kannte. Sie hatte das Gefühl, alles passierte irgendwie gedämpft, wie hinter einem Vorhang oder durch einen Nebelschleier. Sie erinnerte sich, dass sie bei der Anreise ein bedrückendes Gefühl hatte und dieses Gefühl sogleich dem Wetter zuschrieb. Angesichts der zu betreuenden Familie hatte sie diesem Empfinden dann keine zusätzliche Priorität eingeräumt und sich ihren Pflichten gewidmet.

Jetzt hatte sie Zeit, Gerfelden die Aufmerksamkeit zu schenken, die es verdiente. So wie sie es empfand, verdiente diese Stadt verdammt viel Aufmerksamkeit. Sie ging mehrmals über den Markt, beobachtete und sammelte Eindrücke. Man musste hinsehen, sagte sie den ihr anvertrauten Novizen ständig, wenn sie zum ersten Mal mit ihr reisten. Richtig hinsehen, nicht nur gucken.
Erkennen.

Es war so interessant zu beobachten, auf eine traurige Art, aber dennoch.
Hier stimmt etwas nicht.
Um zumindest eine vage Aura des Lichts in diese gedrückte Atmosphäre zu bringen, sprach die Priesterin bei ihrem Spaziergang ein Gebet. Doch das Bein wurde schwächer, sie stützte sich mehr auf den Stab und das Reisebündel wurde auch immer schwerer. Um die Kutsche aus der Stadt hinaus nicht zu verpassen, verzichtete sie darauf Fragen zu stellen und machte sich eher auf den Weg. Dabei nahm sie sich vor, ihre Beobachtungen auf der Reise intensiv zu überdenken.

Unterwegs zu ihrer Kutsche traf sie auf eine alte Frau, die einen Händler um Hilfe für ihre fieberkranke Tochter anflehte.



Ich habe da ein ganz mieses Gefühl.

Die Priesterfalle ist nichts Neues für Ebha. Sie hat eine geistige Liste erstellt mit den top fünf Arten, einen Priester in eine Falle zu locken. Es ist so leicht und so durchschaubar. Häufig stellt sich dann heraus, dass man lediglich um ein paar Münzen und teure Heilsalben oder -tränke erleichtert wird. Nicht selten bringt man einem Priester trotz des Überfalls noch gebührenden Respekt entgegen, was dann beinahe etwas Komik in die eigentlich angespannte Situation bringt. Niemand mag sich mit dem Licht anlegen, das wird sich nicht ändern. Und doch ist sie sicher, bisher Glück gehabt zu haben. Ausgeraubt werden ist noch kein Drama.

Gefangenschaft und Sklaverei ist etwas anderes.

“Hrm.” Ebha brummt die Fensterscheibe an. Sie mag nicht, wohin der Gedanke sie führt.

Das weißt du ganz genau.

"Hrm."

Du hast es erlebt.



Es waren sieben, die um sie herum auftauchten. Sieben wehrhafte Personen, davon eine junge Priesterin, die Ebha auf eben erst geweiht einschätzte. Sie war die Einzige, die zu verhindern suchte, was die Hexe im Sinn hatte, Tapferes, dummes Ding, und dafür leiden musste. Noch eine Priesterfalle. Eine Falle in der Falle.
Sie selbst war eher Beobachter als Teilhaber an der Situation. Sie stellte ihre Fragen, hakte bei den Antworten nach, prüfte sorgfältig in Gedanken die gesammelten Informationen.
Niemand schien sich über ihre Ruhe zu wundern. Sie fühlte sich erinnert. Sie fühlte sich seltsam sicher. Nicht unbedingt ihres Lebens oder ihrer Zukunft, aber...
….es ist das Gefühl wenn der Krieg vorbei ist....
Sie war bereit. Sie war wach und konzentriert. Alles wurde klarer, schärfer. Gedanken wurden schneller, Reaktionen automatisierter, Worte schneller und direkt gewählt.
…. dein Verstand die Schlacht aber nie verlassen kann.
Sieben. Alle verflucht, alle gebunden, alle versklavt. Ein Kampf war möglich, Erfolg unwahrscheinlich. Das Wasser war der Schlüssel zu dem Ganzen. Dahinter ein unbekannter Feind, ein Diener eines alten Gottes, sagte die junge Priesterin. Ein Feind des Lichts.

Sie hätte sich wehren können. Sie hätte riskieren können, dass mehr als die junge Priesterin gefoltert wurden um sie zu überzeugen. Sie hätte ihr Leben riskieren und verlieren können. Sie hätte die Demütigung riskieren können, dass man es ihr aufzwang.
Ebha entschied schnell und griff nach der Phiole.
Das ist dein Schlüssel.
Und sie trank den Inhalt.
Das Tor öffnet sich.
Der Schmerz brennt heißer als jedes Feuer es je könnte.
Du betrittst die Schlacht.



Du bist ziemlich verrückt, weißt du das?

Die Priesterin lässt die Gedanken schweifen und verziert das lächelnde Gesicht noch mit großen Segelohren und einer dicken Kartoffelnase.

So sehe ich gar nicht aus.

“Klappe zu, Charles.” wispert sie in die Dunkelheit, mit einem Lächeln auf den Lippen.

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