25 Apr 2010

Nachtwind (Teresa): Fünf Phasen


Erste Phase

Ein Jahr geht vorbei. Für die Frau mit den Dolchen bringt ein ganzes Jahr ein ganzes Leben zu seinem Ende. Eine Liebe kommt, wird nicht erwidert und geht. Ein Meister findet sie, prüft sie, tötet sie. So zumindest hätte es enden sollen, findet sie. So wäre es richtig gewesen.
Jetzt lebt sie das falsche Leben. Falscher als alles, was sie zuvor lebte. Sie isst wieder, sie trinkt nicht, sie trägt ihre Messer mit Stolz und liebt nicht mehr, begehrt nicht mehr. Sie ist wieder sauber, wischt sich dennoch Schmutz ins Gesicht, um die Maske aufrecht zu erhalten. Sie hungert nicht mehr und bewegt sich mit der den blitzenden Messern entsprechenden Eleganz, auch wenn sie noch immer versucht, linkisch und bäurisch zu wirken. Ungeschickt und dumm. Dennoch ist es ausreichend, um die ihr übertragenen Aufgaben zu erfüllen.
In Bree ist es einfach, niemand sieht sie an. Ein Straßenmädchen unter vielen. So kann sie das Freudenhaus besuchen, kann sich das zu ihr passende Bier bestellen, kann die Augen offen halten, wie sie es soll, kann dabei unauffällig bleiben.
Bis sie der Beginn des vergangenen Jahres wieder einholt. Das, was alles änderte und nie wieder angerührt werden sollte, holt sie ein, so scheint es.

Nein, nein, nein. Er ist nicht tot. Er KANN nicht tot sein. Es ging ihm gut, ich hab’s gesehen. Er wollte glücklich sein, er KANN nicht tot sein. Das geht nicht. Er lügt. Der kleine Bruder lügt. Er will mich nur ärgern, macht sich lustig. Liegt in der Familie, hat er auch getan. Machen wir uns über die Straßengöre lustig und erzählen, ich bin tot. Gute Idee! Mal sehen, wie es sie zerreißt. Mal sehen wie es schmerzt. Mal sehen wie es sie umbringt. Sag ihr, ich bin tot. Sag mir, wie sie reagiert hat. Das wird ein Spaß! Niemals ist er wirklich tot. Nein. Er lebt, ich WEISS es.
Er darf nicht tot sein. Was soll ich nur tun, ohne… NEIN!
Sie haben dieselben Augen. Ich hasse ihn dafür, ich steche sie ihm aus. Ich treffe mich mit ihm und steche ihm dieser verdammten Augen aus.


„Geh’n wir was trinken?“
„Lass uns Morgen etwas trinken. Heute nicht mehr. ‚tschuldige.“
„Hm, ja.“
„Gut… also. Bis Morgen. Wie war… dein Name?“
„Teresa, Dummkopf. Hab‘ ich doch gesagt.“

Arschloch, wart’s ab. Ich krieg dich.
Nimrothir KANN nicht tot sein. Ich WEISS das.
Vielleicht leg ich ihn noch flach. Mal sehen, ob sie dann noch lachen können. Ob ER noch lachen kann.
Nicht schlafen, nachdenken.


Teresa muss einsehen, dass er tatsächlich nicht mehr lebt. Nicht nur das, sie muss einsehen, dass sein Bruder ihn zwar beerben will, es aber nicht kann und wohl niemals können wird. Nicht was sie betrifft, dass will sie nicht, obwohl sie es will. Das letzte Jahr war kein gutes Jahr und sie vergisst niemals, mit wem das Jahr, das nicht gut war, anfing. Womit es anfing.
Dennoch, der kleine Bruder ist nicht ER. Das muss sie einsehen, auch wenn sie es nicht will. Sie ist hin und her gerissen zwischen der Einfachheit der Tatsache, den einen durch den anderen zu ersetzen und der Erinnerung. Sie hat wieder Spaß, freundet sich an, gegen den eigenen Willen. Es ist merkwürdig, wie er auf ihre übertriebenen Annäherungsversuche eingeht, anstatt Abstand zu nehmen. Sie schmieren die Wände voll mit Worten, die sie nicht lesen kann in dem Haus, das ein Schrein für einen Toten ist.
Als sie in das Haus einbricht, entdeckt sie eine Zeichnung. Ein ungewöhnliches Geheimnis, nicht für sie, für andere. Ihre Vergangenheit hat sie Ungewöhnlicheres gelehrt, als das. Der kleine Bruder stellt ihren Einbruch nicht in Frage, sie jedoch das damit einher gehende Vertrauen. Er hat keinen Grund, sich zu öffnen. Nur tote Verwandtschaft. Teresa beobachtet, lässt ihn nicht aus den Augen und stellt fest, dass er sich ebenso schnell verschließen kann wie er sich öffnet. Sie fühlt sich verbunden.

Zweite Phase

Natürlich kennt Teresa das Motto der Familie, der ER angehörte. Oder sich angehörig fühlte, denn sein Blut war ein anderes. Eine Zugehörigkeit, die sie niemals anerkennen wollte und auch nie anerkennen wird. Sie sind schuld, findet sie. Hätte es sie nicht gegeben, wäre er nicht gestorben. Grund genug, einer ganzen Sippschaft zu zürnen und sich mit Rachegefühlen zu beschäftigen.
Dann begegnet ihr die eine, die den Verstand hatte, feige zu sein. Gutes Gespräch, aber sie ist eine von ihnen. Nicht dumm, aber eine von ihnen. Durchaus sympathisch, aber eine von ihnen. Auch nicht hässlich, aber eine von ihnen.

„Du kanntest meinen Bruder?“
„Was für’n Bruder?“
„Der auch der Bruder von Sethur war.“
„Das is‘ nich‘ dein Bruder.“
„Doch.“
„Nä.“

Teresa klärt ihren Standpunkt, unabhängig davon, was sie damit anrichtet. Sie hat ein großes Talent dafür, mitten in eine Klinge zu rennen. Das will sie nicht ändern, nicht in diesem Fall. Deswegen sorgt sie dafür, dass nicht vergessen wird, was ihre Sicht der Dinge ist.

Ich finde sie sollten verrecken. Alle. Warum nicht? Gerechtigkeit. Hätte direkt dafür sorgen sollen, das ihr Blut den Brunnen verziert, das Wasser rot färbt. Es sieht schön aus, wenn es sich unter der Oberfläche wie eine Wolke ausbreitet, ich mag das.
Sie weiß nicht zu schätzen, was sie mir voraus hat.
Sie kennt Sethur, war dabei, als ich ES erfuhr. Hat meine Tränen gesehen ich hasse sie dafür. Hasse Sethur dafür. Werde ihm die Augen ausstechen, sobald ich ihn sehe. Sicher sind sie befreundet, verdammte Scheiße. Tu ich ihm weh, treffe ich sie. Das ist gut. Tu ich ihr weh, treffe ich ihn, das ist nicht gut.
Ich hasse ihn dafür und sie für ihre bloße Existenz.



Dritte Phase


Ich denke an nichts Böses und treffe einen Mann aus der Wüste, der vorgibt sein Leibwächter zu sein. Merkwürdig spricht und davon ausgeht, dass ich Sethur töten will.
Das Wasser nehmen. Vollidiot.
Ich halte es fast mit der Wahrheit, wenn ich sage, dass ich ihn flachlegen will, oder?


Teresa ist nicht sicher, was sie von der Person halten soll, die sie bei Sethurs Haus antrifft und ihr die Gelegenheit bietet, unbeabsichtigt vermutlich, einen freundschaftlichen Handel einzugehen. Sie könnte ihm helfen. Beide haben die Messer an ihrem Gürtel als das entlarvt, was sie sind. Man bat also um Hilfe. Warum nicht?

Eine Hand wäscht die andere, oder?
Er hat ein Problem, das er nicht allein bewältigen wird. Ganz gleich, wie er sich bemüht. Es sind nicht die Breeländer Gossenkinder, es sind die Leute um ihn herum. Die, die ihn stützen sollten, aber nicht können, weil sie allesamt zu verklemmt sind um mit offenen Augen zu leben, ohne Scheuklappen. DAS ist das Problem und es lässt sich nicht ändern. Ich weiß das, habe Ähnliches erlebt. Dieselben Anschuldigungen, Demütigungen, Vorurteile. Der Unterschied ist, dass es für mich eine Art Rechtfertigung gibt, für ihn nicht. Wertlos als Mensch sein, als Person. Man gewöhnt sich daran, aber ich will es nicht für ihn. Er kann seinem Bruder nicht gerecht werden, wenn es ihm ebenso ergeht. Er kann nicht frei sei und nicht mein Freund. Ganz zu schweigen von anderem.


Also bietet Teresa Hilfe an, an die zuvor nicht gedacht wurde, wie es scheint. Sie bietet ihren Platz in einem Schauspiel, dessen Aufführung jeder sehen sollte, aber nie darüber in Kenntnis gesetzt werden würde. Ihre Gründe sind fadenscheinig, zumindest die Genannten. Sie versucht selbstlos zu sein, denn die Hoffnung darauf ein solches Schauspiel real zu machen, hat sie vor langer Zeit aufgegeben. Wieder dreht sie sich um ihr eigenes Gefühl, das zu leugnen ist einfacher als alles andere.

Ich helfe dir. Entspann dich, bleib bei mir, ich achte auf dich. Niemand achtet auf mich, aber das ist unwichtig, denn das kann ich selbst. Du nicht. Aber ich zeige es dir. Dafür zeigst du mir…


Jemand ist im Haus.


Vierte Phase


Unruhig sieht Teresa immer wieder nach dem Mann, der neben ihr liegt. Er schläft, ruhig, entspannt, wie es sein sollte. Dieses Mal kann sie nicht darüber lächeln. Immer wieder ruft sie sich die Ereignisse der letzten Nacht ins Gedächtnis: Das Treffen mit den Sandwinden, Ihre Einladung, die „Nacht der Göttin“, Sethurs Auftauchen, sein ungewöhnliches Verhalten, Cúronsûls Reaktion und sein Abschied und das nachfolgende Gespräch mit Sethur. Er hatte es geschafft, wie sein Bruder, sie eiskalt zu erwischen. Brachte eine Saite in ihr zum Klingen, die sie nicht mehr kannte, und schnitt sie sogleich durch, so dass sie nun in Fetzen hing. Unbeabsichtigt, da war sie sicher. Dennoch schmerzhafter als das letzte Jahr.
Sie schlüpft lautlos aus dem Bett, zieht ihm die Decke über die Schultern, mit zitternden Händen. Sie eilt aus dem Raum, auf leisen Sohlen die nackt sind und schließt geräuschlos die Tür. Das alles in höchster nervöser Eile, den Atem anhaltend. Erst als sie im Arbeitszimmer die Tür hinter sich schließen kann und die Stirn an die kühle Holzwand legt, schnappt sie wieder nach Luft – und wieder – und wieder. Langsam beugen sich die Knie, die Hände gleiten an der Holzwand nach unten. Tonlos schluchzend kauert Teresa in der Zimmerecke, eine Hand auf den Bauch gepresst, an der Stelle der langen Narbe, die andere auf den Mund, um keinen Lärm zu verursachen.
Sie findet keinen Schlaf mehr, nur Tränen, und ist fort ehe Sethur in ihrem Bett erwacht.

Ich muss etwas tun. Etwas tun, ja.
Ich weiß nicht was, alles ist kompliziert. Cúronsûl, ich mag ihn. Hatte Hoffnung. Die hat er auch, nur andere, das konnte ich sehen. Es wäre gut gewesen, nur wir drei. Es wäre RICHTIG gewesen. Würde ich mich besser fühlen? Wie würde Sethur sich fühlen? Bin ich so verzweifelt? Sind sie es? Ich kenne meine Antwort, aber nicht ihre.
Ich habe seinen Bruder verloren, ihn will ich nicht auch noch missen müssen. Jetzt nicht mehr.
Und der Wüstenmann?
Nun, den auch nicht. Oder?
Ich sollte mich aufhängen. Vielleicht erwürgt mich jemand. Irgendein Breeländer Idiot hat immer eine vorschnelle Klinge dabei.


Teresa’s Auftrag hatte eigentlich beinhaltet, einem Händler in den Einsamen Landen eine Nachricht abzunehmen, ohne das er es bemerkt. Jetzt steht sie über seinem Leichnam, die Nachricht, die sie nicht lesen kann, in den Gürtel geklemmt, die blutigen Dolche lächelnd wieder scheidend.

Cúronsûl hat mit dem roten Mädchen gesprochen. Sie hat mich Hure genannt, mal wieder. Hat mir Vorwürfe gemacht, mal wieder. Hat mich rausgeworfen, mal wieder.
Ich kenne die Demütigungen und Anschuldigungen und kann sie normalerweise abstreifen – wenn sie berechtigt sind. Dieses Mal ist es anders, denn das was geschah, war ehrlich und nicht käuflich.
Umso tiefer schneiden ihre Worte wie meine Messer in dein Fleisch.

Wenigstens das kann ich.
Gut.


Später am Abend sucht sie Zuflucht bei Sethur. Er scheint besorgt um ihren Zustand, ist ein guter Freund und nimmt sie bei sich auf. Sie streiten sich um sein Problem, doch nur kurz, denn er macht einen Rückzug, was Teresa maßlos enttäuscht. Streiten ist gut, findet sie. Eines der wenigen Dinge, bei denen sie sich lebendig fühlt. Danach liegt sie still neben ihm, täuscht vor zu schlafen, fast atemlos, die ganze Nacht. Beobachtet seine Unruhe und bietet alle ihr zur Verfügung stehende Kraft auf, um nicht eine weitere Nacht wie zuvor in dem Arbeitszimmer zu verbringen.
Erst als sie hört, wie er das Haus verlässt, zieht sie sich die Decke über den Kopf und erlaubt es sich zu atmen. Wieder sind es Tränen, die damit einhergehen.

Fünfte Phase

Der Zufall will es, dass Teresa Cúronsûl antrifft. Bei ihm die Frau aus der Wüste, die zu ihm gehört. Teresa ist wütend, will sich verständlich machen, bekommt nur Unverständnis und nutzlose Lösungsvorschläge. Später wird ihr auffallen, dass eine Sache hilfreich sein könnte: Sethur bitten, zum Mädchen zu gehen. Doch als sie noch bei ihnen ist, ist sie erst wütend, dann frustriert, dann resigniert sie schließlich und verschließt sich vollends.

„… und nenn‘ mich nicht Wasserklinge. ich bin keine verdammte Mörderin.“
„Wir schon. Was ist daran verdammt?“
„Muss nicht jeder wissen, was ich tu.“
„Das war nicht die Frage.“
„Das ist meine Antwort.“
„Wie sollen wir dich dann nennen?.“
„Teresa. Einen anderen Namen habe ich nicht.“
„Aber den habt ihr bekommen, als ihr geboren wurdet.“
„Kann sein, ich weiß es nicht.“
„Habt ihr euch diesen Namen verdient?.“
„Man nannte mich einfach so.“
„Dann ist er ohne Wert.“

Dann ist es eben so, na und?
Am Ende bleibe IMMER nur ich.
Ein leerer Name, Wertlos.
So bin ich.
So ist es eben und ich akzeptiere es.


Warum du nicht?

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