„Nich‘ so schnell, Mama!“
Hastig platziert die Sechsjährige ihren nächsten Schritt. Die glatten Sohlen der roten Lacklederschühchen lassen sie auf den alten Stufen der Wendeltreppe ausrutschen und sie landet schmerzhaft auf ihrem Hinterteil. Schon wieder.
„Was machst du denn? Tante Erica wartet!“
„Mein Mantel ist schmutzig!“
Von der Mutter wieder auf die Füße gestellt, richtet die Kleine erst ihre blonden Locken, die heute von einer roten Schleife aus dem Gesicht gehalten werden, dann klopft sie den – ebenfalls roten – Mantel an ihrer Hinterseite sauber und blitzt die ältere Frau mit purem Vorwurf in den Augen an.
„Wenn du denkst, dass ich wie ein Straßenmädchen zu Tante - …. Aaah!
LASS MICH RUNTER!“
Mit einem Seufzen aus tiefster Mutterseele hat die Ärztin ihre Tochter umschlungen und sich, wie damals als sie noch Windeln trug, seitlich auf die Hüfte gesetzt. Unter lautem Protest, der nun durch altehrwürdigen Katakomben schallt, natürlich.
„Ich kann selber laufen! Lass mich runter, sonst sag ich alles Papa!“
„Kleines Fräulein, wenn du denkst, dass ein artiges Mädchen keift und zappelt wie ein altes Waschweib, müssen wir wohl noch einmal über gutes Benehmen sprechen, hm?“
Missbilligend schnalzt die Mutter mit der Zunge. Eine Unart, die von ihrer Tochter gleichermaßen verhasst und vergöttert wird. Deswegen stemmt die junge Teufelin ihre Hände protestierend in die Seiten und schnalzt ebenfalls leise mit der Zunge, als sie am Fuß der Treppe endlich abgesetzt wird. Zum Glücke beider klingen etwas weiter den Gang entlang gerade die hölzernen Absätze von Tante Erika über den Stein, gefolgt von Kerzenschein und ihrer stets lachenden Märchentanten-Stimme, die viel älter klingt, als die Mittvierzigerin ist.
„Na, wer besucht mich denn im tiefen Keller? Ah, ihr seid es. Und ich dachte, hier streiten sich die Kobolde…“
Wieder schnalzen Mutter und Tochter mit der Zunge. Von der älteren ist ein gedehntes und mahnend wirkendes „Erika…!“ zu vernehmen und die Jüngere trillert fröhlich „Aber die gibt’s doch gar nicht!“.
Tante Erika kommt der Sechsjährigen heute komisch vor. Normalerweise ist sie von Mamas Schlag, schlank und hübsch und immer mit ordentlichen Haaren. Heute trägt sie ein langweiliges schwarzes Kleid ohne Muster oder Gürtel und eine hässliche lange silberne Kette mit einem riesigen Anhänger, der einen Stern im Kreis darstellt, um den Hals. Das schwarze Haar ist länger als sie gedacht hätte und wirkt so offen irgendwie… Unordentlich, ungekämmt. Das Mädchen rümpft die Nase.
Wie ihre Mutter ist Tante Erika auch Ärztin, nur schneidet sie die Leute nicht gesund, sie redet sie gesund, hat man ihr erklärt. Ihre Berufsbezeichnung ist ziemlich schwierig auszusprechen, deswegen hat das Mädchen es buchstabieren gelernt und in der Schule damit angegeben: P-S-Y-C-H-O-L-O-G-I-N und P-S-Y-C-H-I-A-T-E-R-I-N. Den Unterschied hat sie zwar noch nicht verstanden, oder was genau Tante Erica jetzt macht. Aber ein Fleißsternchen ins Hausaufgabenheft hat es dafür gegeben!
Auch jetzt versäumt sie die Gelegenheit nicht, ihre Mutter und Tante Erica mit ihren Buchstabierkünsten zu unterhalten, während sie durch die langen Gänge gehen. Die Frauen lachen und unterhalten sich nebenher. Langweiliges Zeug, findet das Töchterchen und schmollt über den Mangel an Aufmerksamkeit.
Sie zieht eine niedliche Schnute und verbreitet allerdüsterste Kinderstimmung, was sich erst legt, als man ihr zehn Minuten später eine große Tasse heiße Schokolade – Mit Milch, nicht mit Wasser! – vor die Nase stellt und einen ordentlichen Klecks süße Sahne dazugibt. Denn von ihrem Vater hat sie gelernt: Es gibt NICHTS, was heiße Schokolade mit Sahne nicht wieder gut machen kann. Und weil Papa der allerklügste, allergrößte und allerstärkste Mann der Welt ist und ihr letzte Woche den schönen roten Mantel und die Dorothy-Schuhe gekauft hat, hat er natürlich immer Recht.
Außerdem ist Papa Anwalt.
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